Wie Beppo



Meine Lieben alle

Gestern Nachmittag habe ich mcih daran gemacht, die Schweinerei, die mein Ahornbaum veranstaltet hat wegzumachen. Jedes zweite Jahr etwa lässt er ganz viele Samen fallen und die verteilen sich auf unserem Vorplatz und dem Grundstück unserer Nachbarin. Dann haben wir jeweils eine Pampe, wenn es regnet und man sieht den Boden kaum noch. Da unsere Nachbarin 86 Jahre alt ist, ist es natürlich Ehrensache, dass wir dafür zuständig sind, ihre Wiese und den Kiesplatz von den Helikoptern zu befreien... 

Also nahm ich mich dem an. Ich lieh ihren tollen Besen aus und machte mich daran. Zuerst stellte ich die Autos weg und legte los. Wann immer ich einen Besen in der Hand halte, denke ich an Beppo. Dieser alte und geduldige Strassenkehrer, der Momo von seinem Vorgehen erzählt. Als Kidn hatte ich das Hörspiel zum Film und ich liebe es. Dieses Band habe ich fast durchsichtig gehört. Und wenn ich vor einer Aufgabe stehe, die endlos scheint, dann mache ich den Beppo. :-) 

Als Bildhauerin hatte ich oft solche Aufgaben. Da musste ich wochenlang eine Fläche gerade schleifen, von Hand, bei Eiseskälte mit Wasser und einem Keramikschleifklotz. Dabei konnte ich sehen, wie das Schleifwasser auf dem Kalkstein zu wunderbaren Eisbildern gefror und meine Fingerkuppen bluteten, weil die Haut darauf weggeschliffen war. Diese Ausbildung wurde nicht nur mit einem Fähigkeitszeugnis gekrönt- es war eine Schule fürs Leben- wahrlich! Seither kann ich mich solchen Aufgaben einfach stellen und sie Schritt für Schritt zu einem Ende bringen. 

Also habe ich gestern gefegt und gerecht. Etwa zwei Stunden lang. Ich nahm jeden Besenstrich bewusst wahr und sah, wie die Helikopterchen nach uns nach sich zu kleinen und grösser werdenden Haufen zusammen taten. Strich für Stirch. Auch legte ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem und merkte, wie ich ihm mit der Bewegung fliessen liess. Meine Gedanken flossen ebenso durch mich hindurch und eine wohltuende Stille breitete sich aus. Zwei Stunden lang spürte ich nur den Besen in meinen Händen, die Blasen, die dabei entstanden, der Rücken, der sich durch die Bewegung verspannte und die Schwere in meinen Armen. Und ich fühlte mich dabei einfach gut und zufrieden. 

Körperliche Arbeit im Garten half mir schon jeher, den Kopf frei zu kriegen. Wenn meine Fingernägel schwarz vor Erde, die Finger müde und Arme schwer sind und ich auf das Tageswerk blicken kann, dann fühl ich immer eine tiefe Ruhe und Zufriendenheit. Manchmal sehe ich vorher den ganzen Haufen von Arbeit, die erledigt werden muss und dann braucht es zwei Anläufe, bis ich wirklich starte. Doch wenn ich dran bin, dann fällt es mir nicht schwer, jeden Schritt vor den anderen zu setzen und eine Aufgabe nach der anderen zum Ende zu bringen. Beppo sei Dank! Meiner Bildhauerlehre sei Dank! 

Schritt für Schritt. So geht nun auch der Bundesrat vor. Schritt für Schritt zurück in eine (neue) Normalität. Das Gefühl breitet sich aus, dass es lange braucht, bis es wieder wie vor Corona ist. Manche wagen sogar zu denken, dass es niemals mehr so sein wird wie vorher. Doch das glaube ich nicht. Die spanische Grippe hatte auch einschneidende Massnahmen zur Folge, war weitaus tödlicher und dennoch erholte sich die Gesellschaft. Ich denke es braucht Zeit. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Ziel, dass wir endlich wieder singen dürfen. Zusammen, in einem Raum. Bis dahin leben wir bewusst, geniessen das Jetzt, stellen uns der Aufgabe nicht zu verzagen, Atemzug für Atemzug. 


Ich wünsche euch ein wunderbares Wochenende!


Hier noch der Text zu Beppo:

Beppo der Strassenkehrer

Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wußte, es war eine sehr notwendige Arbeit.

Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter: Schritt - Atemzug -Besenstrich.

Während er sich so dahinbewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur gerade eben noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat. Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte. "Siehst du, Momo", sagte er dann zum Beispiel, "es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man."

Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: "Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, daß es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluß ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen."

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: "Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muß nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten." Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: "Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein."

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: "Auf einmal merkt man, daß man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste." Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: "Das ist wichtig."

Michael Ende

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